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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Männerfreundschaften

Alle paar Wochen neue öffentliche Liebesbekundungen – ist Wladimir Putin gar homosexuell?




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artikel/Aus neutraler Sicht/J_KW_06_200px.png Gut, ich gebe es zu, Alexander Nawalny sieht gut aus, und die Nummer «allein gegen die Staatsgewalt» ist schon sehr heroisch, im Prinzip deutlich männlicher als die Rolle des Staatspräsidenten, Dikta­tors oder Zaren, welche Putin spielt. Aber Gefühle sind nicht wichtig in dieser Show, wichtig ist, dass Putin dem Nawalny erneut vor den Augen des weltweiten Publikums einen Beweis seiner Gunst erbracht hat und ihn schon wieder nur verhaften ließ, anstatt ihn endlich zu erschießen oder in ein paar Stücke zu zerschneiden und den Bären im Moskauer Zoo vorzuwerfen, wie er es sicher mit einem anderen Staatsfeind längst getan hätte, man kennt das ja. Vor nicht ganz neun Jahren zum Beispiel wurde der russische Anwalt Sergei Magnitski in der Untersuchungshaft derart gründlich verhört, dass er daran starb. Sein Staatsvergehen: Er hatte einen Steuerbetrug von 230 Millionen US-Dollar in Moskau zur Anzeige gebracht. Die eigentliche Strafe bestand dann nicht in der Er­mordung im Gefängnis, sondern darin, dass Sergei Magnitski vier Jahre später verurteilt wurde – wegen Steuerhinterziehung. Das Strafmaß ist mir nicht bekannt, ich gehe davon aus, dass es nicht lebens­länglich war, wenn ich mir diese etwas unkorrekte Pointe hier einmal erlauben darf.

Das, geschätzte Hörerinnen und Hörer, ist das Kaliber von Putins Geschoßen, das ist die Währung, in welcher der oberste Steuermann Russlands bezahlt, wenn es hart auf hart geht. Es versteht sich dabei von selber, dass die Anwältin eines vom ermordeten Magnitski beschuldigten Verdächtigten nette Kontakte zum Wahlkampfteam von Donald Trump hatte, aber das hat mit dieser Sache nichts zu tun, hier geht es um die Zukunft Russlands nach Putin, und ich will einen Besen fressen, wenn Nawalny nicht jeweils bei seinen Gefängnisaufenthalten zusammen mit Vertretern von Medwedew und Putin weiter arbeitet am Plan, die beiden in, sagen wir mal zehn Jahren zu beerben, vielleicht mit einer neuen Partei; solche Dinge wollen gut vorbereitet werden, denn Putins Machtbasis ist im Moment zwar stabil, aber nicht dauerhaft. Man könnte auch sagen: Sie ist nicht dauerhaft, aber sta­bil. Sie taugt nicht für eine Dynastie, da hilft kein noch so muskulöser Oberkörper; ein neues Zaren­geschlecht kann ich mir in Russland ganz ohne Herleitung aus den Tiefen der Geschichte einfach nicht vorstellen. Der Trick mit dem Ämtertausch alle 8 Jahre mit Kamerad Medwedew dürfte auch gelegentlich an die Grenzen seiner Plausibilität stoßen. Es kommt noch dazu, dass es auch in Russ­land irgendwo eine Schicht an Intelligenz geben muss, sogar in den Führungsetagen oder vielleicht sogar vor allem in den Führungsetagen, welche wirtschaftlich mindestens so viel verstanden hat, dass man nicht auf ewig die Bodenschätze ausbeuten sollte, sondern wie in allen anderen Welt­re­gio­nen auch endlich mal die Bevölkerung. Und hier ist der Stand der Handwerkskunst der kapita­listische, das heißt, man sollte die Verwertungsmechanismen langsam auch auf Konsum umstellen, wenn man die Strukturen nicht völlig vor die Hunde gehen lassen soll. Es gibt viel zu tun, nicht zuletzt beim politischen System, also muss da etwas in Richtung formale Demokratie unternommen werden. Dieser Notwendigkeit, welche auch einem russischen Kopf vollständig einleuchten muss, steht die andere, kurzfristig strukturelle Problematik gegenüber, dass man das bestehende Geflecht aus Abhängigkeiten und Freundschaften, welches für die Stabilität der Regierung Putin sorgt, nicht einfach so mit einem Federstrich ausschalten kann. Es braucht eine sorg­fältige Vorbereitung und Planung, und eine bessere Figur als Alexander Nawalny, dessen Integrität durch die anhaltenden Inhaftierungen marmor-, stahl- und eisenhaft belegt wird, gibt es dafür nicht.

Das ist die Substanz der Männerfreundschaft zwischen Wladimir Putin und Alexander Nawalny, und es ist selbstverständlich möglich, dass ich mich irre. Aber wenn es nicht der Nawalny ist, muss es jemand anders sein, und ich sehe nun mal niemand anderen. Also ist es eben doch der Nawalny. Und zum Zeichen nehmet dieses, dass er vor einer Woche praktisch umgehend wieder aus der Haft entlassen wurde – offenbar gibt es im Moment grad nicht so viel zu besprechen vor der großen Olympiade-Show in Südkorea; dafür wurden, um den Schein zu wahren, drei Mitarbeiterinnen von Nawalny verhaftet und zu mehrjähriger Zwangsarbeit am Polarkreis, ach Quatsch, zu Gefängnis­stra­fen von 8, 5 und 30 Tagen verurteilt. Wenn das mal keine Liebesbeweise sind! Das ist doch das Äquivalent von einem Strauß von 50 rot-weiß-blauen Rosen.

Für den objektiven Betrachter ist es natürlich ein jämmerliches Schauspiel, was Moskau darbietet im Bereich Machtorganisation und Machterhalt. Dass man noch Ende des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend einen Anwalt im Gefängnis exekutiert und ihn dann posthum jenes Deliktes schuldig spricht, das er bei der Staatsanwaltschaft anhängig gemacht hat, das ist nicht nur widerlich und gleichzeitig lächerlich, sondern es verweist darauf, dass auf jener Machtebene in Staat und Wirtschaft, die ich vorher erwähnt hatte, eben durchaus keine Stabilität eingekehrt ist. Völlig unbe­merkt von der Weltöffentlichkeit kämpfen Interessen und Gruppen miteinander, ich nehme mal an, um irgendwelche Goldgruben aus Erdgas, Waffengeschäften, Diamanten und was weiß ich noch alles, die man mit den alten Methoden der Mafia aus dem New York der 1920-er Jahre oder aus dem Sizilien der 1990-er Jahre in Schach halten muss. Das ist nicht lustig und vor allem für das Land ausgesprochen kontraproduktiv, wie das doch auch die in dieser Machtsphäre sehr wohl vorhandene Intelligenz bemerken und beklagen muss. Traurig ist das, traurig.

Und dann begreift man auch die Schwierigkeiten bei der Führung dieser Weltmacht, wenn man sich anschaut, was der Kollege Erdgas in der Türkei grad veranstaltet. Der ist dabei, seinen Fiebertraum von der alten osmanischen Pracht um ein kleines Stück der Realität näher zu bringen. Was soll nun Kamerad Putin dazu sagen? Jetzt hat man erfolgreich die USA aus der Region hinausgeworfen, naja, bis auf die Stützpunkte am Golf und bis auf die wahabitischen Saudiarabier, aber ansonsten haben die spätestens seit dem neuen Präsidenten überhaupt gar nichts mehr zu sagen. Und jetzt dieses Bubenstück vom Erdogan, unmittelbar gefolgt von ein paar Zuckungen der Verbindung von Freier Syrischer Armee mit Al Kaida in der Provinz Idlib. Was tun? So eine richtig ausgewachsene Konfrontation mit dem türkischen Präsidenten empfiehlt sich nicht gerade, auch wenn man formal­juristisch dazu eine Handhabe hätte, also ich spreche jetzt vom syrischen Präsidenten und Putin-Verbündeten Assad; aber vorderhand bietet sich die Situation noch zu wenig klar, als dass eine klare Stellungnahme beziehungsweise ein direktes militärisches Eingreifen ratsam erschiene. Die Kurden erfüllen ihre historische Mission wieder einmal, indem sie den wehrlose Spielball zwischen den anderen mächtigen Akteuren in der Region geben, und wie sich Russland positioniert gegenüber Aser­beidschan und dem Iran, das sind weitere ziemlich knifflige Fragen, für deren Beantwortung man nicht einfach die Botschafter der entsprechenden Länder in den Knast werfen und dort zu Tode foltern kann, nein, hier geht das nicht. Dazu kommt die chinesische Handelsoffensive mit der neuen Seidenstraße, die auch irgendwo zwischen Jekaterinburg und Bagdad durchführen wird und zu wel­cher sich Moskau den einen oder anderen Gedanken gemacht haben wird, abgesehen vom direkten Geschäft mit der Volksrepublik. Hier hört man seit längerer Zeit praktisch gar nichts mehr, was darauf schließen lässt, dass sich Russland und China in den wichtigsten Fragen einigermaßen ge­einigt haben; es herrscht Ruhe im Osten des Kontinental-Kartongs.

Der Chinese hat sowieso andere Prioritäten, Stücker zwo nämlich: einerseits den geopolitischen Ausbau der Präsenz, vor allem in Afrika und zum Teil auch in Lateinamerika, und zum anderen die vollständige innere Entwicklung des Landes, die Transformation in eine moderne, post­indus­tria­li­sierte Nation. Unabhängig davon, dass dieses Spiel hundertprozentig eigennützig ist und seine Neben­wirkungen hat wie jede andere Entwicklung auch, in China beispielsweise bei den bürger­lichen Freiheiten oder in kleineren Territorial- und Einflusskonflikten, unabhängig davon also bleibt mir immer wieder der Mund offen stehen, wenn ich mir vergegenwärtige, wie sich dieser Koloss innerhalb von kürzester Zeit zu dem gemacht hat, was er ist, ganz abgesehen von den noch bevorstehenden Schritten. Ein Weltwunder, größer als die chinesische Mauer. Da sollte sich der Russe mal ein Stückchen von abknabbern.

Es gibt Menschen, die ihr Geld mit der Verbreitung von Analysen und Einschätzungen machen, die sozialen Medien sind voll davon, aber ihre Vorbilder tummeln sich auf den Universitäten. Einer davon ist Professor Graham Allison von der Harvard-Universität. Er prophezeit einen Krieg, und wenn schon einen Krieg, dann natürlich gleich einen Atomkrieg zwischen den USA und China, und seine Begründung ist historisch-empirisch: Schon die aufstrebende Macht Athen hat im antiken Griechenland die dominierende Macht Sparta ablösen wollen, was zu einem Krieg zwischen den beiden geführt hat, wie dies auch Thukydides erkannt hat. All dies kann man nachlesen im Schunken «Destined for war», der Ende Mai 2017 erschienen ist; man kann es aber auch bleiben lassen, weil nämlich die Chinesen intelligent genug sind, um zu sehen, dass sie ihren Einfluss auf der Welt nicht mit Krieg, sondern mit Handel ausdehnen können, wie sie dies in den letzten Jahren und Jahrzehnten durchaus erfolgreich getan haben. Handel und Prosperität beruhen nun aber einfach darauf, dass man auf Partner angewiesen ist, mindestens beim Handel, und allein deshalb ist dies ein deutlich anderes Paar Schuhe als die Philophrasien von Graham Allison.

Von einem weltpolitischen Einfluss hat man dagegen im Fall von Russland schon lange nicht mehr gesprochen; beim Nahen Osten handelt es sich um eine Anrainer-Region, aus welcher die Obama-Administration die Russen sehr gerne hinaus geworfen hätten, was aber gründlich in die Hosen ging. Der Preis dafür ist immer noch hoch genug. Die Jungs und Mädels hauen sich dort nun bald im vierzigsten Jahr auf den Deckel, wenn man mal den Sturz des Schahs als Ursprung nimmt für das ganze Debakel mit dem anschließenden iranisch-irakischen Krieg, in welchem Saddam Hussein für die Amis die Kastanien beziehungsweise das Erdöl aus dem Feuer holen sollte, über die darauf folgenden Golfkriege, in welchen die Amis ebendiesem Hussein aufzeigten, wo Gott thront, bis zur definitiven Destabilisierung zuerst im Irak und anschließend in Syrien. Wie hier die Lösung aussehen soll, ist schwer zu sagen, weil über dem Ganzen tatsächlich noch die Auseinandersetzung zwischen Sunniten und Schiiten lagert. Warten wir also noch etwas zu, bis sich hier ein westfälischer Frieden abzeichnet.

In der Zwischenzeit braucht man sich wenigstens nicht so radikal zu ärgern über das offizielle Israel zum einen, über die Antisemiten zum anderen. Stattdessen kann man sich mit der Frage be­schäf­tigen, weshalb sich die politischen Kommentatoren für Deutschland so einig sind in dem Sinne, dass es nun dringend Alternativen bräuchten zur bisherigen Politik. Aber in welcher Beziehung denn? Eine Partei mit diesem Namen krakeelt in eurem Bundestag herum, aber das könnt ihr ja nicht gemeint haben, werte politischen Kommentatorinnen und Kommentatoren. Wovon sprecht ihr also? Von der Abschaffung des Mindestlohnes oder von seiner Verdoppelung? Von der Abkehr von der Energiewende oder von ihrer Intensivierung? Von einem neuen Steuer­system? Vom Abbau von Schulden? Von der Einführung des bedingungslosen Grund­ein­kommens? All diese Vorschläge und noch eine Million mehr bilden den alltäglichen politischen Diskurs, und manchmal gibt es Schritte in diese und manchmal in jene Richtung; es ist nicht anzunehmen, dass sich unter einer anderen Regierung alles anders verhalten täte. Dass ihr gerne mal neues Personal haben und sehen möchtet, ist verständlich, aber eine Abkehr vom lupenreinen Sozialdemokratismus werdet ihr doch nicht im Ernst wollen wie diese anderen Brüllaffen?

Nein, zum Sozialdemokratismus gibt es keine Alternativen. Aber man soll sich Gedanken machen darüber, wie es weiter geht. Wenn ein mehr oder weniger bescheidener Wohlstand in praktisch alle Haushalte eingedrungen ist, wo liegen dann die Herausforderungen für die Zukunft? Dass man zum Beispiel die Infrastrukturen endlich mal modernisieren sollte, darüber herrscht allgemeiner Kon­sens, im Gegensatz zur Art und Weise, wie man das anpacken und vor allem wie man es fi­nan­zieren sollte. Darüber wird im Rahmen sozialdemo­kra­ti­scher Regierungen gestritten, manchmal gibt es sogar eine Lösung. Aber was ist mit den Menschen, welche Bedürfnisse haben die Menschen, wenn ihre Grundbedürfnisse mal befriedigt sind? Und hierzu noch ein kleiner Tipp: Während die Grund­be­dürf­nisse der Menschen recht schnell definiert sind, nicht zuletzt deshalb, weil es weitgehend biologische Bedürfnisse sind, wird es bei den anderen Bedürfnissen sehr schnell kulturell. Hier tritt ans Licht, dass der Mensch ein Kultur­erzeugnis ist, ein Produkt seiner eigenen Kultur. Wenn also ihr, ihr Kommentatorinnen und Kommentatoren, von Alternativen sprecht, dann sprecht ihr zweifellos von solchen Kultur­bedürfnissen. Bloß habe ich dazu von euch, geschätzte Kommentatorinnen und Kommentatoren, bisher noch nichts Vernünftiges gehört.



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Albert Jörimann
06.02.2018

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