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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Das Volkvolk

In Frankreich löst sich Marine Le Pen im Moment grad in Staub auf. Vor einem Jahr hatte man noch befürchtet, sie würde die erste rechtsextreme und völkische Staatspräsidentin einer sogenannten Kulturnation; Emanuel Macron hat sie aber mit einer neuen Partei einfach weggefegt.



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Im gleichen Zug sind die bisherigen Einflussbereiche in sich zusammen gefallen, als erstes verschwanden die Sozialisten, dann die mehr oder weniger bürgerlichen Parteien, die Versuche der Gewerkschaften, die bisherigen Machtmechanismen zu ihren Gunsten zu aktivieren, schlugen fehl und das gallische Dorf mit dem linken Widerstand lässt auch nichts mehr von sich hören.

Gleichzeitig hat sich weder wirtschaftlich noch sozial noch politisch wirklich etwas geändert. Die Unternehmen unternehmen weiterhin ihre Unternehmungen mit freundlicher Unterstützung des Staates, die Fremdenlegion wirkt sich in Afrika aus, die Steuern und Sozialprogramme werden weiter betrieben wie bisher, ein bisschen Arbeitsmarktreform ist dazu gekommen wie in Italien jene von Meister Renzi, aber abgesehen davon gleicht das politische Programm von Emanuel Macron allen anderen politischen Programmen der bisherigen Regierungen wie ein Ei dem anderen. Bloß dass auch in Frankreich die Wirtschaft wieder besser läuft als noch vor einem Jahr, wie allerdings überall in den sogenannten Kulturnationen Europas. Ob das nun einfach eine Frage der Wahrnehmung ist oder tatsächlich eine der Statistik, lässt sich im Zeitalter der Statistikkritik auch nicht mehr so einfach sagen.

Die Frage ist aber nicht jene nach dem einsetzenden Wirtschaftswachstum, sondern ganz einfach: Was ist da los? Wie kann es geschehen, dass ein zentraler Teil der Wählerschaft in Frankreich innerhalb von wenigen Monaten oder sogar Wochen von einem rasend fremdenfeindlichen Programm mit neofaschistischem Vokabular und hysterisch rasender Flutung des Denkapparates mit Ressentiment und Vorurteil zu einem stinknormalen, einfach etwas smarteren Jungpolitiker mit dem bekannten politischen Diskurs umschwenkt? Das erinnert mich an die rechtsextremen Ungarn von Jobbik, die jetzt auf Mitte-links machen, weil ihnen der Regierungschef Orban die Positionen weggefressen hat. Aber wie geht das in diesem Volkskörper drin, dass solche Gefühle zuerst einmal überhaupt Einzug halten und dann nicht wirklich zu Überzeugungen werden, sondern zu so etwas wie Stimmungs­lagen, die ohne weiteren ersichtlichen Grund als ein kleineres oder stärkeres Mode-Lüftchen hierhin oder dorthin kippen?

Ich bin gewohnt an Zustände, in welchen sich die Sozialdemokratie um eine halbwegs anständige Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums bemüht, ohne auch nur im Geringsten an den Grund­strukturen des kapitalistischen Systems zu rütteln, während die bürgerliche und kleinbürgerliche Mehrheit an Gott, Vaterland und an der freien Marktwirtschaft festhält, allerdings mit einer ge­wis­sen Bereitschaft, den Ärmeren in der Gesellschaft auch ein paar Geldscheine abzudrücken, um so mehr, als der Wohlstand anerkanntermaßen deutlich höher ist als vor zehn, zwanzig, dreißig Jahren. Da brauchte man sich lange nicht weiter Gedanken zu machen über die Herleitung solcher Überzeugungen, das war eh alles klar. Ebenfalls klar ist mir schon länger, dass diese bürgerlichen und kleinbürgerlichen politischen Parteien schon seit langer Zeit derart aufgeweicht sozial politisieren, dass die besten Regierungschefs immer eine im Kern sozialdemokratische Politik fahren, seit langer Zeit; das hat nicht nur mit Weichspülern zu tun, sondern ganz handfest mit den ökonomischen Interessen des Landes, des gesamten Kontinentes und der gesamten Welt, welche partout einerseits die Wirtschaft qua Konsum in Gang halten will und anderseits ein Minimum an politischer Stabilität garantiert sehen wollen. Auf der Grundlage eines unerschöpflichen Produkte­angebotes aus automatisierter und globalisierter Produktion geht das gar nicht mehr anders denn sozialdemokratisch. Und damit fallen die Grundlagen für die frühere Lagerbildung zusammen. Die Sozialdemokraten versuchen sich verzweifelt als sozialdemokratisches Original aufzuspielen, wo sie schon längstens ausgespielt haben, und zwar haben sie ausgespielt, weil ihre historische Mission erfüllt ist, erschöpft, vollendet. Die Geschichte will jetzt mit Macht das Kapitel Sozialdemokratie abschließen und neue Seiten aufschlagen, neue Kapitel schreiben. Bloß weiß kein Schwein, wie diese aussehen. Das führt zu einer ganz gewaltigen allgemeinen Orientierungslosigkeit, und ich bin mir sicher, dass diese Orientierungslosigkeit am Ursprung dessen steht, dass ganze Länder ihre politische Befindlichkeit innerhalb von wenigen Wochen radikal ändern können.

Selbstverständlich gilt dies für die Kulturnationen, mit einer Ausnahme, nämlich mit Ausnahme der ältesten Kulturnation Italien, welche sich für einen Weg entschieden hat, der jeglicher Rationalität entbehrt, nämlich eine Mischung aus Ineffizienz und Kriminalität als Grundlage des Staatswesens. Das produziert eine besonders eigenartige Stimmung im öffentlichen Bewusstsein, insbesondere zusammen mit den Zerfallserscheinungen der ehemals stärksten kommunistischen Partei im Westen, die früher mal für die Moderne und für Moral stand, was aber schon lange Geschichte ist. Heute formiert sie sich immer wieder neu und produziert immer wieder neue Exponenten, die vom immer gleichen Massimo D'Alema abgeschossen werden, einem Massimo D'Alema übrigens, der sich nach wie vor ein Linker nennt. Ein Linker, der seine Intrigen von seiner Segeljacht aus mit einer Rolex am Arm vom Stapel lässt. Nun gut.

Daneben haben wir noch die Länder im Osten, die am Status einer Kulturnation noch zu beißen haben. Sie arbeiten nach wie vor das Erbe der Sowjetunion ab. Diese Abarbeitung erfolgt unter erschwerten Bedingungen insofern, als man sie mehr oder weniger vorbehaltlos in die Europäische Union aufgenommen hat, was es ihnen noch viel stärker als allen anderen Ländern erlaubt, einer­seits Geld in rauen Mengen zu beziehen und anderseits gegen die EU zu wettern und bei alledem immer auch noch jener Korruption und Ineffizienz zu huldigen, ohne welche der Übergang von einer nicht besonders gut funktionierenden Staatswirtschaft zu einer unkontrollierten Privat­wirt­schaft offenbar nicht zu machen ist. Um von solchen Missständen abzulenken beziehungsweise um die eigenen Interessen vor der eigenen Öffentlichkeit halbwegs zu kaschieren, bedient sich ein Teil der jeweiligen Eliten durchaus mit Erfolg der nationalistischen Trompete. Welchen Erfolg sie damit im Volkskörper tatsächlich haben, ist schwer abzuschätzen, aber Wahlen lassen sich damit offenbar gewinnen.

All das ändert nichts am Rätsel, vor welchem wir stehen, vor einer Bevölkerung oder meinetwegen vor einem Volk, dessen Bewusstsein sich verhält wie eine Wanderdüne auf dem Weg zurück in die Zeiten vor der Aufklärung. Um dann aber ebenso irrational wieder zurückzuschwappen.

Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass mit dem Absterben der historischen ideologischen Linien wenigstens die Grundregeln von Denken und Verhalten in den Volkskörper eingesickert seien, also in erster Linie die Einsicht in gewisse elementare wirtschaftliche Fakten und überhaupt mindestens das Erbe der Aufklärung, einmal abgesehen von den Lehren, die man aus Krieg und Faschismus gezogen hat. Jetzt hat man aber oft den Eindruck, dass nicht einmal das mehr gesichert sei, auch wenn die Social-Media-Phänomene von Hass bis Faschismus sicher nicht ein Abbild der Gesamtbevölkerung geben. Trotzdem: In diesen Zeiten machen die Menschen offenbar nicht einmal mehr das, was sie wollen, sondern sie sind Spielbälle von Trollen und vor allem von sich selber als im Kern ungefestigte und apolitische und irrationale Wesen.

Offenbar muss man sich die Vorstellung der Bevölkerung als Summe heroischer, fortschrittlicher und ausgezeichnet gebildeter Individuen, früher hätte man gesagt: als revolutionäres Subjekt ans Bein streichen. Das ist nicht schön. Und unter uns gesagt habe ich dazu auch überhaupt keine Lust. Ich kann und will es einfach nicht glauben, dass das gegenseitige Würgen, Treten und Abschlachten wieder in Mode kommt, zuerst als Scheißestürme auf den sozialen Medien und anschließend in der Realität. Ich kann es nicht glauben, und offenbar ist die Realität auch nicht so, wie es eben das Beispiel des französischen Volkskörpers zeigt, der sich drei Monate vor den Wahlen dem antieuropäischen, rassistischen und nationalistischen Furor hingibt, um dann in einer fast schon koketten Verdrehung dem charmanten Emanuel auf den Thron zu verhelfen. Versprecht ihr, geschätzte Freundinnen und Freunde im deutschen Ausland, dass ihr das auch so halten werdet und dass ihr bei Gelegenheit eure Aufmerksamkeit weniger auf jene Ausländer konzentriert, die jeden Tag einen deutschen Reichsbürger umbringen, als vielmehr auf jene Reichsbürger, welche in ganzen Horden und absichtlich solche Lügen verbreiten, daneben tagtäglich mehrere Verbrechen gegen ausländische Mitbewohnerinnen begehen, vom körperliche Übergriff bis hin zu Angriffen auf Asylantenunterkünfte, und von denen die Lügenpresse weitgehend aufgehört hat zu berichten?

Aber damit ist es nicht getan. Es geht darum, in einem nächsten Schritt das ganze Kombinat aus Vernunft, Denkvermögen, Faktentreue und Wissenschaftlichkeit, kurz all das, was an den Universitäten und durchaus auch an den Schulen durchaus gelernt wird, zum Pfeiler einer neuen moralischen Bewegung zu machen, welche uns in eine erfreuliche Zukunft führt wie seinerzeit Moses die Juden durchs rote Meer. Denn die Zukunft ist tatsächlich rosig, das ist ja das absolut Aberwitzige an diesen seltsamen Bewegungen der Bevölkerung: Wir sind unterdessen derart reich, auch die Armen unter uns, dass wir es uns sogar leisten können, diesen Reichtum zu produzieren, ohne die Welt dadurch direktemang kaputt zu machen. Wir können ökologisch produzieren, wir können sozial produzieren, wir können umweltfreundlich herumreisen, was für mich selbstverständlich heißt unter weitgehenden Verzicht auf Automobil und Flugzeug, die Bahn und die Schiffe tun es in den meisten Fällen auch, aber das sind echte Details, fest steht nur eines: Wir sind historisch gesehen genau an jenem Punkt, an dem es geht. An dem praktisch alles geht, sogar der Empfang von was weiß ich wie vielen tausend Einwandererinnen und Einwanderern pro Jahr, auch wenn es mit Garantie tausend Mal besser wäre, wenn die Wirtschaftsmigranten ihre Zukunft in ihren eigenen Ländern suchen könnten, aber das ist noch eine andere Geschichte. Aber auch für diese Geschichte, meine sehr verehrten Damen und Herren, stehen Lösungen mehr oder weniger unmittelbar realisierbar bereit. Was soll also der Scheißdreck mit all den Nationalisten und sonstigen Idioten. Einfach sauber weitermachen auf der Linie der Vernunft, der Fakten, unserer anerkannten moralischen Grundsätze, der Wissenschaften – das sollte doch nicht so schwer sein, oder?



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Albert Jörimann
23.01.2018

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