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"Aus neutraler Sicht" von Albert Jörimann - Japan

Zu meinen Bekannten zähle ich neuerdings auch ein paar Japan-Fans. Soweit ich das beurteilen kann, fasziniert sie vor allem die Alltags-Kultur, der Umgang der Menschen miteinander bezie­hungs­weise das Selbstverständnis des japanischen Ichs als Bestandteil der Gemeinschaft mit der unbedingten Verpflichtung, die Regeln einzuhalten und die anderen Leute zu respektieren, Anstand in der höchsten Ausbaustufe sozusagen.



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Eigenartigerweise geht das ganz prima einher mit einem ebenfalls hoch entwickelten Verbrechertum oder mit umfangreichen, wo nicht umfassenden gegenseitigen Abhängigkeiten von Politik und Wirtschaft, die im analytischen Vokabular durchaus mit Korruption und Bestechung zu bezeichnen sind. Da aber auch Verbrechen und Korruption sehr zivilisiert ausgeübt und angewandt werden, ist das friedliche Funktionieren des Gesamtapparates garantiert. Dazu kommen einige weit ausgebaute Kulturformen, zum Beispiel die Gewohnheit, dass die Verkäuferinnen und Verkäufer in den Buchhandlungen die erworbenen Taschenbücher umgehend in einen neutralen Einband einschlagen, damit keine indiskrete Passantin etwa in Erfahrung bringt, welchen Schund oder welche Hochliteratur die Käuferin soeben erworben hat.

Solch ein Taschenbuch erhielt ich jüngst ausgeliehen. Der Umschlag besteht aus normalem, etwas stärkerem Packpapier, auf welches das Logo der Buchhandlung gedruckt ist, in meinem Fall Books Sanseido. Der Inhalt dagegen besteht nicht aus dem Regierungsprogramm von Shinzo Abe, sondern aus einer zeitgenössischen Biografie von Winston Churchill, und zwar nicht auf Japanisch, sondern auf Englisch. Dass der Churchill-Knabe gerade jetzt auf allen Kanälen Konjunktur haben muss, hängt wohl mit dem in Gang befindlichen Austritt Englands aus Europa zusammen, den wir uns alle mit möglichst wenig Blut, Schweiß und Tränen wünschen und den wir mit einem bedauernden Achselzucken sowie mit ziemlich steifen Oberlippen zur Kenntnis genommen haben. Sehr schön und bemerkenswert ist hier aber der Umstand, dass es sich beim Verfasser dieser unterdessen drei Jahre alten Hagio­graphie um niemand anderen handelt als um den aktuellen Außenminister ihrer Majestät der Königin, den blondgelockten Boris Johnson. Mein Kollege erwies sich nicht nur als Japan-Kenner, sondern auch als Ästhet, indem er behauptete, Johnson verfüge über einen brillanten Stil, den er in einem früheren Leben als Journalist in Brüssel sehr gerne zum Einsatz gebracht habe. Eine oberflächliche Überprüfung ergibt, dass Johnsons Schreibstil eher flüssig zu nennen ist als brillant; er schreibt wie zum Beispiel Bill Bryson vor dreißig Jahren, im Konversationston eines amüsanten Reisejournalisten, was seinem Gegen­stand insofern völlig angemessen ist, als Johnson selbstverständlich nicht über Churchill schreibt, sondern über sich selber. Heute seien alle Konservativen bedingungslose Bewunderer von Chur­chill, sagt er, aber zu seiner Zeit hätten sie kein gutes Haar an ihm gelassen und ihn wegen seiner Exzentrizität aufs Gröbste kritisiert. Er skizziert sogar die Gruppe von Churchills Freunden so, wie Wikipedia seine eigenen Studienkollegen beschreibt mit Darius Guppy, der später wegen Ver­si­che­rungs­betrugs verurteilet wurde, sowie Charles Spencer, der Bruder von Lady Diana. Immerhin liefert Wikipedia noch eine Information, die mir bisher unbekannt war, nämlich dass Boris Johnson einen türkischen Urgroßvater hatte, Ali Kemal, den letzten Innenminister des Osmanischen Reiches, der seinerzeit noch Kemal Atatürk verhaften hatte lassen und später hingerichtet wurde, worauf Johnsons Vater nach London floh und dort den Namen Wilfred Johnson annahm.

Boris Johnson wäre also der Mann, der die Geschicke Großbritanniens auf schwerer See und in schwierigen Zeiten lenken müsste, das habe ich verstanden und das Buch dann zurückgegeben, da mir ja der beschriebene Gegenstand, also hier Churchill und nicht Johnson, doch nicht ganz und gar unbekannt war und da die Aussicht auf den Gewinn neuer Erkenntnisse praktisch von Zeile zu Zeile weiter verflog, eben, was Churchill anbelangt; was dagegen Johnson anbelangt, bin ich mit dem Wikipedia-Hinweis zu seinem osmanischen Großvater eindeutig auf dem Zenith angelangt und will nun nichts mehr hören. Ich habe sowieso die Schnauze voll von quisi-quasi originellen Jung­kon­ser­va­tiven, welche die vergammelten Ideologie-Konserven ihrer Urgroßväter als den neuesten Schrei an den Mann und an die Frau bringen wollen.

Weshalb aber werden solche Papageien trotzdem immer wieder gewählt? Weshalb kann man in einer Demokratie auch heute noch beziehungsweise heute mehr denn je irgendwelchen Stuss erzählen, ohne dass man bei den Menschen hochkant durchfällt? – Das ist ein echtes Phänomen unserer Zeit. Ein Grund muss darin liegen, dass es schlicht und einfach nicht drauf an kommt, ob jemand vernünftig daher redet oder bar jeglicher Zusammenhänge und moralischer Grundlagen. Staat und Gesellschaft, das muss die allgemeine Haltung der Bevölkerung in westlichen Demo­kratien sein, funktionieren so oder so beziehungsweise funktionieren so oder so nicht, unabhängig davon, wer gerade an der Macht ist und vor allem unabhängig davon, welche Sorte Honig er der Öffentlichkeit grad wieder ums Maul schmiert. In diesem Sinne hat sich Politik in eine besondere Art von Vergnügungspark verwandelt, wo einem nicht wie auf der Achterbahn Hören und Sehen vergehen, sondern wo eine bestimmte, ganz besonders instinktivische Zwiebelschicht des mensch­lichen Bewusstseins stimuliert werden soll. Vermutlich handelt es sich dabei um eine neue gedankliche Ausstülpung und damit um ein neues Organ des Hirns, um das siebenhundert­sieb­zehn­te Promille seiner Gesamtkapazität, das sich ohne jegliche echte Faschismus- oder was auch immer Gefahr dem Pläsier der Selberzelebration durch Verächtlichmachung anderer hingibt. Das Pläsier ist alt, die Art seiner Befriedigung oder Erfüllung dagegen neu. Da kann dann eben einer Brexit brüllen und die andern jodeln begeistert hinten drein, umso begeisterter, als sie ja in einem Land ohne direkte Demokratie leben, und plötzlich haben sie doch abgestimmt und schauen sich verdattert an, um nur umso lauter weiter zu jodeln. Ja so jodelt doch, ihr Narren von den britischen Alpen, und kauft und lest die Bücher von eurem Pseudo-Churchill mit den blonden Locken.

Der gleiche Kollege und Japan- und Johnson-Bewunderer hat mir übrigens noch eine DVD mit auf den Lebensweg gegeben mit dem 6 Jahre alten Film «Sushi in Suhl» drauf, den ich dann nicht ohne Amüsemang angeschaut habe. Allerdings erschien mir das Hauptmenü, nämlich das Abkochen von Vorurteilen gegenüber der DDR und ihren bürokratischen Organisationen, doch ziemlich altbacken. Trotzdem ist die Diskrepanz zwischen einer vermeintlichen Weltoffenheit und dem plötzlichen Ein­bruch dieser offenen Welt in den Alltag ein anhaltend aktuelles Thema, nicht nur wegen der Flücht­linge oder Migrantinnen, sondern vor allem, weil sich unsere vermeintliche Weltoffenheit heute am besten im anhaltenden Bereisen der offenen Welt manifestiert und darin, dass sämtliche Waren des täglichen Gebrauchs unterdessen aus der offenen Welt importiert werden, während wir in einer gedanklichen Ausstülpung unseres Hirns immer noch davon ausgehen, dass wir alle in Suhl leben.

Nichts gegen Suhl, wohlverstanden!, ist sicher ein wunderbarer Ort, und ich verspreche hiermit, bei nächster Gelegenheit dort eine Bratwurst zu essen.

Bis Ende Januar läuft in Lausanne noch eine Ausstellung des chinesischen Welt- und Allerwelts-Künstlers Ai Wei Wei, die ich hier aus zwei Gründen erwähne, obwohl sich Ai Wei Wei unter­dessen derart fest im Olymp des Kunstbetriebs etabliert hat, dass man ihn gar nicht mehr wahr­zunehmen braucht, höchstens noch insofern, als er als Künstler den Spannungsbogen zwischen staatlicher Repression und staatlichem Aushängeschild verkörpert wie kein zweiter in diesem Universum. Aber die Ausstellung ist doch besonders, indem sie nicht einfach im Musée des Beaux Arts stattfindet, sondern verstreut über all die anderen Museen, die sich ebenfalls in diesem gewaltigen Palais de la Rumine an der Riponne befinden, im naturhistorischen, im geologischen, im archäologischen, im historischen Museum, im Münzkabinett und in der Bibliothek, was nur schon insofern ein wunderbares Konzept ist, als man sonst in der Regel gar nicht den Fuß setzt in all die anderen Bildungstempel. Sie ist gleichzeitig die Abschieds-Ausstellung für das Kunstmuseum, das demnächst einen Neubau bezieht; ich hoffe immerhin, dass die anderen Abteilungen weiterhin für das Publikum zugänglich bleiben, einschliesslich des Gebäudes selber, das an einem Hang unterhalb von Kathedrale und Regierungsgebäude vor allem aus Treppen zu bestehen scheint. Der zweite Grund ist der, dass mir Ai Wei Wei eine Brücke baut zu einer anderen chinesischen Künst­lerin mit Namen Cao Fei, die sich vor allem mit Artefakten auseinander setzt in ihren Werken und Videos, zum Beispiel mit Avatar-Welten im Second Life, mit Costume Players, aber auch mit der relativen Künst­lichkeit zum Beispiel von Fabrikhallen oder von Großstädten, welche produktiv oder räumlich einen Zweck oder eine Idee verkörpern, die aus einer anderen Dimension stammen als jene des einfachen Subjektes. Das muss die Kunst als sehr subjektive Angelegenheit natürlich beschäftigen, darauf, auf die Übermacht des Systems oder meinetwegen der Kultur oder der Zivilisation, muss sie reagieren, und sei es eben durch die Flucht ins Second Life. Cao Feis Produktionen wirken eigentümlich ästhetisch und distanziert, obwohl die Grundaussagen zunehmend pessimistisch sind; «Zwischen Traumwelt und Katastrophe» betiltelt Tom McDonough einen Artikel über sie, und derjenige von Jiayun Zhuang heißt «Performance ohne Transzendenz». Neben der Fabrikhalle als Ort der vollständigen Desillusion kommen auch Zombie-Figuren ins Spiel, aber die Künstlichkeit des Ganzen verleiht den Gebilden immer noch den Glanz der Pop Art, welcher sehr viele chinesische Kunstschaffende treu begleitet.

Woher ich das alles weiß, könnt ihr nun fragen, und die Antwort ist nicht, dass ich es selber nicht wisse, sondern ich weiß es genau: Den Ai Wei Wei habe ich mit eigenen Augen gesehen und wie gesagt zum Anlass genommen, das ihn umgebende Gesamtmuseum als Gesamtkunstwerk zu würdigen; auf Cao Fei dagegen bin ich gestoßen in der vorletzten Ausgabe der Kunstzeitschrift Parkett, welche ihr Erscheinen im Sommer 2017 nach 33 Jahren mit der 100. Ausgabe eingestellt hat. Na, wat denn nu, habe ich mich gefragt, braucht es diese Zeitschrift nicht mehr? Hat es sie in diesem Fall gar nie gebraucht? Jedenfalls habe ich nichts gesehen von einem Plan, die Publikation aufs Internet zu migrieren, obwohl die Webseite nach wie vor in Gebrauch ist. Funktioniert der internationale Kunstmarkt also in Zukunft ohne begleitende und Verkündigungsliteratur? Sprechen in Zukunft die auf dem Markt erzielten Preise nicht nur für sich, sondern überhaupt die einzig verbliebene Sprache, jenseits von Argument und Kritik?

Das ist ja durchaus möglich, und falls das so sein sollte, dann rauschen wir mit Volldampf in eine weitere überaus spannende Epoche, nämlich in jene, wo man sich auch die Kritik und die Publikationen mehr oder weniger von Grund auf selber neu erfinden kann. Auf diese Art und Weise kehrt das Subjekt in vollem Triumph zurück in die moderne Gesellschaft und Zivilisation.





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Albert Jörimann
16.01.2018

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